Immer mehr chronisch Gestresste: Der Job-Stress-Index 2020 der Gesundheitsförderung Schweiz liefert Zahlen, die beunruhigen. Ein Forschungsprojekt am Mobiliar Lab für Datenanalytik will mithelfen, chronischen Stress zu verhindern. Der SVC hat bei der Leiterin des Projektes, Dr. Erika Meins, nachgefragt.
Chronischer Stress am Arbeitsplatz ist schädlich und kostet die Wirtschaft jährlich Milliardenbeträge. Und er nimmt zu. Wie können Sie Ihre Mitarbeitenden vor chronischem Stress schützen? Es gibt grosse und kleine Massnahmen, die helfen.
Es gibt grosse und kleine Massnahmen, die helfen.
Arbeitsbezogener Stress kostete die Arbeitgebenden im Jahr 2020 rund 7,6 Mrd. CHF. Im Jahr 2014 waren es 5.6 Mrd. Franken. Auf diese Zahlen kommt die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. In dem seit 2014 jährlich durchgeführten Job-Stress-Index bei Erwerbstätigen in der Schweiz zeigt sich eine beunruhigende Entwicklung. Zwar sind bei etwa der Hälfte der Arbeitnehmenden Ressourcen und Belastungen im Job ausgeglichen. Aber der Anteil jener steigt, die stärker belastet sind als sie Ressourcen haben: von 24.8% im Jahr 2014 auf 29.6% im 2020. Drei von zehn Erwerbstätigen sind betroffen und fühlen sich emotional erschöpft – ein Zeichen für den gefährlichen, chronischen Stress.
Stressfaktor Digitalisierung
Eine mögliche Erklärung dafür ist die zunehmende Digitalisierung. Sie erfordert neue Fähigkeiten am Arbeitsplatz und erhöht das empfundene Arbeitstempo, wie die Befragten im Job-Stress-Index angeben. Das Thema ist seit Pandemiebeginn besonders aktuell. Denn im Homeoffice arbeiten wir so digital wie nie. Sogar ein neuer Stressfaktor mit eigener Bezeichnung dafür ist aufgetaucht: Die Videokonferenz-Erschöpfung, auf Englisch «Zoom-Fatigue».
Akuter versus chronischer Stress
Stress ist nicht per se schlecht. Im Gegenteil: Akuter Stress mobilisiert Hormone, die uns helfen, uns zu fokussieren und die uns zu Höchstleistungen antreiben. Genauso wichtig ist allerdings die Fähigkeit, nach einer Stressphase abschalten zu können. Der Körper braucht Ruhephasen, um herunterzufahren und sich zu regenerieren. Bei chronischem Stress ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, der Körper erholt sich nicht mehr. Darunter leidet nicht nur die Gesundheit der Mitarbeitenden und ihrer Familien. Wenn Mitarbeitende schlechter arbeiten oder gar ausfallen, wird das auch für ihre Unternehmen zum Problem.
Stress-Frühwarnsystem im Blick
Was passiert, wenn wir gestresst sind, und wie können wir chronischen Stress verhindern? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein interdisziplinäres Forschungsteam im Mobiliar Lab für Analytik an der ETH Zürich. Das Lab arbeitet an einem Frühwarnsystem, um Stress bei der Arbeit am Computer zu erkennen und zu reduzieren.
Der Körper reagiert
Als erster Schritt wurde ein Experiment mit 90 Teilnehmenden in simulierten Grossraumbüros durchgeführt. Drei Gruppen wurden unterschiedlichem Stress durch Arbeitsunterbrechungen ausgesetzt, während sie typische Büroarbeiten verrichteten. Dabei wurden ihre Reaktionen mit Fragebögen zum Wohlbefinden erfasst sowie mit Messungen des Herzschlags und des Stresshormons Kortisol im Speichel. Das Forscherteam konnte messen, wie sich sozialer Stress – zum Beispiel eine Konkurrenzsituation um eine frei erfundene Beförderung – auf die Menge des freigesetzten Kortisols auswirkte. Zudem zeigte sich, dass diese Reaktion bei der Gruppe stärker war, die zusätzlich Arbeitsunterbrechungen ausgesetzt war. Diese Erkenntnisse fliessen nun in die weitere Forschung mit ein. Das Ziel: Mit personalisierten digitalen Interventionen sollen sich Menschen gezielt entspannen und so chronischem Stress vorbeugen.
Frau Meins, Sie leiten seit 2018 das Mobiliar Lab für Analytik. Das Forschungsteam hat in einer Studie unterschiedliche Situationen im Büroalltag simuliert und den Effekt auf das Stressniveau der Teilnehmenden untersucht. Was haben sie herausgefunden?
Erstens, dass Arbeitsunterbrechungen stressen. Wer wiederholt Arbeitsunterbrechungen ausgesetzt war, schüttete doppelt so viel Kortisol in einer sozial herausfordernden Situation aus. Überraschend dabei war, dass die körperliche Reaktion stärker war als die psychische. Wir nehmen also die effektiven Auswirkungen von Stress weniger bewusst wahr, als sie tatsächlich sind.
Zweitens haben wir gesehen, dass soziale Situationen bei der Arbeit ein wichtiger Stressfaktor sein können. Denn die vermeintlichen Vorgesetzten gaben ihre Anweisungen in der Beförderungssituation völlig neutral – kein Lächeln, kein Nicken, kein ermutigendes Wort. Unsere Studie belegt: Eine neutrale bzw. nicht empathische Reaktion der oder des Vorgesetzten reicht, um Stress auszulösen. Umgekehrt wird eine potenziell stressverursachende Situation entschärft, wenn das berufliche Umfeld freundlich und verständnisvoll reagiert.
Aufgrund der Pandemie wird seit letztem Jahr viel seltener in Grossraumbüros oder überhaupt am normalen Arbeitsplatz gearbeitet. Können diese Resultate auch aufs Homeoffice übertragen werden?
Diese Mechanismen – dass Arbeitsunterbrechungen oder sozialer Stress negative Auswirkungen haben können – gelten grundsätzlich auch im Homeoffice. Teils können sie dort sogar verstärkt sein. Stichwort Arbeitsunterbrechungen durch Kinder, die gleichzeitig betreut werden sollten, etc.
Was raten Sie Unternehmerinnen und Unternehmern aufgrund Ihrer Forschungsresultate, um ihre Mitarbeitenden vor chronischem Stress zu schützen?
Ermöglichen Sie ihnen als erstes, Arbeitsunterbrechungen, zum Beispiel durch Mails oder Chatnachrichten, zu reduzieren. Es gibt Tätigkeiten, bei denen die ständige Erreichbarkeit zentral ist, aber bei vielen ist es das nicht. Da kann man die Mailbenachrichtigungen abschalten und die Mails nur noch zu klar definierten Zeiten bearbeiten. Das gleiche gilt für die Erreichbarkeit per Handy: Vereinbaren Sie Zeitfenster, in denen das Team erreichbar sein muss. Die Mitarbeitenden arbeiten auf diese Art produktiver und gelassener. Statt dauernder Arbeitsunterbrechungen sollten sie dann richtige Pausen machen, am besten kombiniert mit Bewegung in der Natur oder mindestens an der frischen Luft.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Wir haben in der Studie gesehen, dass eine potenziell stressverursachende Situation entschärft wird, wenn das berufliche Umfeld freundlich und verständnisvoll reagiert. Eine kleine Nachfrage hier, ein Lächeln da – das kann einen grossen Unterschied machen. Im Homeoffice ist das natürlich schwieriger. In der Kommunikation per Mail oder Chat fallen wichtige non-verbale Kommunikationskanäle wie Gestik und Mimik weg. Dadurch sind die Interpretation und die emotionale Einordnung der verbalen Botschaft erschwert und es kommt häufiger zu Missverständnissen. Hier kann die massvolle Verwendung von Emojis helfen. Sie ergänzen das Wort um eine emotionale Botschaft und können so dazu beitragen, die Einordnung zu erleichtern und sozialen Stress zu reduzieren.
Zudem empfehle ich die drei E-Mail-Regel: Wenn es mehr als drei E-Mails braucht, um sich mit jemandem auszutauschen, ist ein Anruf die bessere Lösung.
Was tun Sie persönlich, wenn Sie sich gestresst fühlen?
Wir haben alle etwas zur Verfügung, das jederzeit verfügbar und kostenlos ist, ausserdem blitzschnell und absolut zuverlässig funktioniert: Unser Atem. Tiefes, ruhiges Atmen entspannt sofort. Ausserdem nutze ich zur Stressprävention Wartezeiten, zum Beispiel am Bahnhof oder vor dem Rotlicht, als kleine Auszeiten, um mich bewusst zu entspannen. Um akuten Stress zu reduzieren, hilft mir eine Mini-Auszeit von zwei bis drei Minuten: tief durchatmen, geistig aus der Situation nehmen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass man in stressigen Situationen gar nicht daran denkt, das zu tun. Genau da setzen wir mit unserem Forschungsprojekt an: ein personalisiertes Frühwarnsystem für Stress, gekoppelt mit digitalen Interventionen zur Reduktion von Stress bei der Arbeit.